Chronik der Vikarie
DIE PILSE 18
 
 
 
 
   

Chronik des Hauses, Pilse 18, von Marc Penchenat

Die heutige Pilse 18 hieß von 1605 bis 1734 „Haus zur Wolfskappe“, bis 1754 Laurentii 31b, nach St. Lorenz benannt, und ab 1754 „Haus zum mittleren Hasengeier“, um sich vom „Großen“ und „Kleinen“ (Pilse 17 und 19) unterscheiden zu lassen, nachdem das gesamte Grundstück des Biereigenhofs in drei Teile geteilt wurde. 1569 gehörte alles Jeremias Seltzer. Die Pilse 18 war nacheinander Eigentum von den Waidkäufern Hiob Stotternheim (1605) und Sebastian Kircher (1626), 1642 vom Professor und obersten Ratsmeister Dr. med. Johann Rehefeldt – 1647 verwüstet, wahrscheinlich als Folge des 30-jährigen Krieges, 1651 neu errichtet – von dessen Witwe Katharine Rehefeldt, 1693 von Hans Zeuner, 1754 vom Leinenweber Kaspar Otto, 1762 vom Bandmacher Johann Schreiber und 1785 von dessen Witwe Sophie Rebekka, 1794 von der Ehefrau des Bandmachers Johann Kahl, 1804 von ihm selbst, 1805 kurzzeitig von Karoline Gottliebe Tix, dann vom Schreiner Johann Dinckel und 1816 von dessen Witwe Anna Magdalene geb. Wellendorf mit den Kindern Christian, Anna und Regine, von den Tischlermeistern Robert Bauer (1817) und Georg Wolfram (1818), 1828 von der Witwe Susanne Hey geb. Bechler, 1837 vom Schlosser Friedrich Fischer und 1852 von dessen Ehefrau Rosine geb. Hartmann, 1865 vom Lithographen Kirchner, 1873 von der Witwe Anna Petsch geb. Gebser und 1902 von der Lorenzgemeinde, dessen Pfarrer der Historiker Jakob Feldkamm von 1887 bis 1915 war, später Dompropst zu Erfurt (1915–1922) und Direktor des Geistlichen Gerichtes. Die Bewohner des Hauses waren von da an alles Vikare, außer im Frühjahr 1945, als fünf Frauen, Flüchtlinge aus Köln, in dem Haus lebten, und in den 1960er bis 1980er Jahren, als zwei Hausfrauen, ein Krankenpfleger, ein Bautischler und ein Student hier wohnten. Die Vikare waren Otto Reinecke (1903–1913), Heinrich Konze (1913–1917), Karl Leineweber (1917–1924), Doktor Reiner von Hähling (1924–1928), Josef Vogt (1928–1930, von 1930 bis 1938 Dompfarrer), Hermann Rohleder (1930–1935), Josef Schrimpf (1935–1938), der am 6.11.1937 unter Haftbefehl stand, da er laut einem Anwaltsbericht versucht hat, „das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, indem er im Dom am Sonntag, den 31.10.1937 in einer Predigt vor rund 1200 Personen [gesagt hat], daß die in dem russischen Staate vom Staat veranstalteten verbrecherischen Handlungen in gleicher Weise auch bei uns vorhanden seien, daß die Gefahr vorhanden sei, daß der Staat aus den Kirchen bei uns Museen machen würde und daß die Jugend sich dagegen wenden müsse.(…) gez. Bick“. In dieser Zeit reichte der St. Lorenz-Pfarrer wegen „besudeltem Haus“ auch eine Klage bei der Staatspolizei ein. Tatsächlich trug nach einem Elternabend in der Pilse 18 die Tür der Vikarie die mit schwarzem Öl geschmierte Schrift „Tod der Sturmschar!“ Die Sturmschar bestand aus mehreren katholischen Jugendverbänden, die seit der Rom-Wallfahrt mit Papstaudienz zu Ostern 1935 zunehmend von den Machthabern verfolgt wurde. Die Gestapo löste die in Gemeinschaft Sankt Michael umbenannte Sturmschar am 6.2.1939 auf. Die weiteren Vikare waren Robert Böning (1938–1944), Theodor Gronde (1947–1948), Edmund Döring (1948–1951), Erich Johne (1951), Gerhard Schwarz (1949–1955), Bernhard Wand (1950–1952), Herrmann-Joseph Häusler (1951–1962), Heinrich Küstner (1955–1959), Peter Jakob (1960–1961), Herrmann Bittner (1962), Herbert Greiner (1962–1964, später Pfarrer von Heuthen und Flinsberg und 2010 verstorben), 2010 verstorben), Friedhelm Wagner (1963-1967), Walter Rheinländer (1967-1971), Herbert Fuhlrott (1970), Franz Konradi (1971-1975), später Erwachsenseelsorge für das Eichsfeld, und Harald Reichmann (1975-1977), der unter dem DDR-Regime im Sperrgebiet in Giesa als Priester gelebt hat. Die letzten Vikare, die in der Pilse 18 gewohnt haben, waren Hartmut Gremler (1977-1980), später Leitender Militärdekan, Martin Montag (1980-1983), später Pfarrer von Leinefeld-Worbis, Bruder vom Pfarrer Montag im Helioskrankenhaus, Christoph Kuchinke (1983-1985), Wolfgang Ipolt (1985-1986), später Regens vom Priesterseminar in Erfurt, heutiger Bischof von Görlitz, Heribert Kiep (1989-1993), später Pfarrer in Heiligenstadt, Christian Gellrich (1993-1997), später Dompfarrer in Erfurt und Pfarrer von Niederorschel, Ludger Dräger (1997-1999), später Offizial (Gerichtsvikar) in Erfurt, Egon Bierschenk (1999-2003), später Pfarrer von Diedorf, und der Kaplan Timo Gothe (2003-2006), heutiger Diözesanjugendpfarrer. Die Lorenzkirche war die erste Kirche in der DDR, die bereits 1978 ökumenische Friedensgebete veranstaltet hat. Im Oktober 1989 fingen 70 Menschen aus der Lorenzkirche eine Demonstration an, die an der Andreaskirche gegenüber der Bezirksverwaltung der Stasi geendet hat. Daraus entstanden die Donnerstagsdemonstrationen in Erfurt, die Tausende Menschen zu Helden der Friedlichen Revolution gemacht haben. Im August 2006 zog schließlich ich als Mieter ein. Am 5.6.2007, dem Bonifatiustag, bin ich Eigentümer geworden. 2008 gründete ich den Verlag „MannaScript“ und die Ferienwohnung „Villa Anna“, benannt nach meiner Tochter. Da das Erdgeschoss der Pilse 18 eine Ferienwohnung ist, betreten nun regelmäßig zahlreiche Gäste aus aller Welt die Schwelle des alten Hauses, seien sie aus Kenia, Senegal, Brasilien, Mexiko, Vietnam und den USA, oder aus Portugal, Italien, Frankreich, Österreich, Russland, der Schweiz und natürlich auch aus allen Regionen Deutschlands. In der Tradition der Vikarie war mein Freund Giuseppe Pulcinelli., ein Priester aus Rom und Professor Doktor in Theologie an der Lateran-Universität, im August 2012 bei uns zu Gast, wo er auch kurz nach dem Tod unserer gemeinsamen Freundin Ruth Henschke vom Carolinenstift, Pilse 9, die Messe für ihre Seele zelebriert hat. In der Pilse wurde eine Jagdstation jungsteinzeitlicher Bauern gefunden, dank der sorgfältigen Verlegung der Steine, die Feuerstelle. Das „Haus zur Wolfskappe“ bekam seinen Namen wahrscheinlich aufgrund des Reliefs, um einen pilzhutförmigen Hügel zu bezeichnen, was der Name der Straße später bestätigt hat, denn Pilse kommt von Pilz. Der Ausgrabungsfund von 2006 zwischen Kaufmännerstraße und Pilse weist auf das älteste Jägerlager Deutschlands von 4500 v. Chr. hin – mit Zehenknochen von Hirschen und Rehen, Backenzähnen vom Hirsch (Grandel), einem Schweinekiefer, sowie zwei Kieferfragmenten von Raubtieren (wahrscheinlich Hund/Wolf und Fuchs) und einer Rippe, die auf der Innenseite den Abdruck einer Pfeilspitze zeigte. Das Ganze wurde an der ehemaligen sumpfigen Gera-Aue gefunden. Die Jäger warteten nachts darauf, dass die wilden Tiere ans Ufer kamen, um zu trinken. Da die Gegend der Pilse mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Biegung des Breitstromes hügelig war, konnten die Jäger von diesem strategischen Ort aus ihre Tätigkeit leichter ausüben. Bei den Grabungen wurden wunderschöne, grüne Keramiken eines wahrscheinlich reichen Mannes gefunden, die den Evangelisten Johannes, einen Minnesänger und eine Hoffrau darstellen. Zu dieser Zeit lief die Pilse noch unter dem Namen “Bulzam”, was mit dem griechisch-lateinischen “boletus” und dem französischen “Bolet” (Steinpilzart) verwandt ist. Auch wenn die Häuser der Straße mit Laurentii und einer Nummer identifiziert wurden, ist der Name der Straße “Pilse” in dieser Wurzel “Buleza” bzw. “Pilz” erkennbar. 1378 trug dort sogar ein Weinberg den Namen “Buleza”. Ich stellte mir vor, dass Steine des Hauskellers aus den Jahren 1243/1247 hätten stammen können, als ein Anonymer aus Erfurt, wahrscheinlich Gilles von Rom, sein Handbuch über die Minne schrieb. Aber die vielen Brände von 1472 haben einen Großteil der Stadt verwüstet und wenn man das Kellergewölbe und dessen Pforte mit dem typisch spätgotischen Spitzbogen betrachtet, kann man eher davon ausgehen, dass der Keller der Pilse 18 Anfang des 16. Jahrhunderts gebaut wurde – und zwar zu der Zeit, als Martin Luther in Erfurt weilte und ein Jahrhundert bevor das Haus zum ersten Mal unter dem Namen „Haus zur Wolfskappe“ erwähnt wurde. 1605, als Waidhändler und Gelehrte in diesem Haus zur Wolfskappe lebten, begannen die Notzeiten mit der Waidkrise, den Religionskriegen und der Pestplage. Große Waidhändlerhäuser wurden nicht mehr gebaut. Doch der ehemalige Präsident der Universität Erfurt, KaI Brodersen, und neue Nachbar, Pilse 19, hat die Balken dendrochronologisch durch die Universität Bamberg untersuchen lassen und schrieb mir: „Demnach sind die Balken des Hauses Pilse 19 (und wahrscheinlich auch die in meinem Haus) zwischen 1724 und 1728 gefällt worden, während die Dachbalken von 1424 sind“; diese wurden bestimmt neu verwendet worden. Zwischen verfallenen Häusern der DDR-Zeit und neuen Wohnungen des vereinigten Deutschlands ragen drei Türme von „Erfordia turrita“, dem turmreichen Erfurt: nördlich am Wenigemarkt die Ägidienkirche, da wo sich auf der Via Regia Paris-Kiew Franken und Slawen trafen, südlich die Lorenzkirche, westlich die Predigerkirche. Das thüringische Rom hatte 90 Kirch- und Klostertürme. Vom Breitstrom der Gera aus haben wir einen Blick auf Junkersand 2, meinen ersten Wohnsitz in Deutschland in 1999, wo die Eltern von Johann Sebastian Bach lebten –, auf die Krämerbrücke, die Kleine Synagoge und die Kulissen des Rathaus!